2. Blick ins Buch

Auszug aus Kapitel 2

Er befand sich in einem unwegsamen Waldgelände und hatte das Gefühl bereits seit Stunden einfach nur herumzuirren. Jetzt lag vor ihm eine Lichtung, die bis hinunter an die Ufer eines Sees reichte. Zu seinem Erstaunen konnte er jedoch keinerlei Bewegung auf der Oberfläche des Gewässers erkennen. Einzig und alleine die bleiche Scheibe des Mondes schien wie ein leuchtend weißer Ball in seiner schwarzen Tiefe zu versinken. Ein Käuzchen schrie und von Weitem hörte er das Heulen der Wölfe, die mit ihrem Gesang Luna lobpreisten, so als wollten sie sie zu sich auf die Erde rufen. Er lauschte halbherzig ihrem Gesang, während seine Gedanken weit in die Ferne schweiften. Dabei verfluchte er im Stillen sich und seine Situation. Warum hatte Hadrian ihn auch gerade hierher in dieses barbarische Land abkommandieren müssen? Der Ruf des Käuzchens schien ihn zu verspotten. Wollten ihm jetzt etwa sogar schon die Tiere sein Unvermögen vor Augen führen?

„Ja, spotte nur! Ich habe es nicht besser verdient! Ich war ein solcher Narr!” Wie, um seinen Worten beizupflichten, schrie das Käuzchen ein weiteres Mal. Ein eisiger Windhauch fuhr ihm durch sein schulterlanges Haar und er fröstelte, obwohl der See noch immer völlig reglos da lag und auch die Baumkronen keinerlei Anzeichen von einer derartigen Luftbewegung erkennen ließen. Er schlang seinen Umhang enger um seine Schultern und hob drohend seine Faust gen Himmel.
„Fortuna! Ist das hier wieder dein Werk? Benutzt du mich schon wieder als Spielball deines Treibens? Ich muss zugeben, diesmal hast du wirklich ganze Arbeit geleistet!”, murmelte er vor sich hin, während er sich auf einem alten knorrigen Baumstumpf niederließ und dabei sein Gesicht in seinen Händen vergrub.

Eine Weile saß er einfach nur schweigend da. Das Gezeter der Tiere wurde lauter und es schien ihm, als wollten sie ihn mit ihrer endlosen Litanei völlig aus der Fassung bringen, als plötzlich ein leises Knacken seine Aufmerksamkeit erregte. Er hob seinen Kopf und spähte in die Richtung aus der es kam, doch nichts geschah. Ein Reh!, schoss es ihm durch den Kopf. Vermutlich hatte er bloß ein Reh aufgeschreckt. Er sah sich noch einmal um, konnte aber auch weiterhin nichts erkennen. Wieder ließ er seinen Kopf sinken, um sich erneut seiner Trübsinnigkeit hinzugeben, als ein weiteres Knacken ertönte. Diesmal ein wenig lauter. Irgendetwas oder Irgendjemand näherte sich ihm, so viel stand fest. Er erhob sich leise von dem Baumstumpf und drängte sich instinktiv zurück in die Büsche. Dann schob er sich tiefer in das Unterholz, immer darauf bedacht so wenig Geräusche wie nur irgend möglich zu machen, bis das dichte Blattwerk ihn vollends verschluckte. Was erwartete ihn? Ein wildes Tier, oder hatte er vielleicht ungewollt einen geheimen Versammlungsort der Barbaren gefunden? Hatte er sich, wie immer, aus purem Leichtsinn in Gefahr gebracht? Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen?

Er wartete, innerlich angespannt und zu allem bereit. Doch, was er nun zu Gesicht bekam, war alles andere nur nicht barbarisch. Es raubte ihm schier den Atem, ließ sein Herz bis zu seinem Hals schlagen und sein Blut pulsierte durch seine Adern wie die tosenden Fluten des Tibers. Offensichtlich hatten die Wölfe mit ihrem Geheul Erfolg gehabt, denn auf der Lichtung erschien eine Göttin. Luna selbst, eingehüllt in das weiße Licht ihres himmlischen Abbildes. Nur wenige handbreit vor ihm hielt sie inne und drehte ihm den Rücken zu. Ihr weißes, wallendes Gewand, dem das weiche, silberne Licht des Mondes einen nahezu überirdischen Glanz verlieh, reichte in sanften Wellen bis hinunter auf ihre Füße. Es war ein Bild, wie aus seinen kühnsten Träumen, nur dass er diesmal anscheinend nicht träumte. Sie schritt nun langsam auf das Ufer des Sees zu, während sie scheinbar zufällig ihr Gewand anmutig von ihren Schultern gleiten und es achtlos auf den Boden fallen ließ. Er vergaß zu atmen und starrte nur noch auf die grazile Gestalt vor seinen Augen. Bei Jupiter, Juno und allen ihm bekannten Göttern, so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Ihr seidiges, dunkles Haar fiel bis hinunter zu ihren Schenkeln, so dass es viel mehr von ihr verdeckte, als ihm lieb war. Und, was noch schlimmer war, da sie ihm auch weiterhin ihren Rücken zu drehte, konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, aber er war sich dennoch sicher, dass es von demselben überirdischen Glanz sein musste, wie auch der Rest von ihr. Sie war die menschgewordene Venus, auf die Erde gekommen, nur um ihn in ihren Bann zu ziehen.

Die junge Frau hob nun ihre Arme gen Himmel und richtete ihren Blick auf Lunas runde Scheibe, dabei verfiel sie in eine Art Singsang. Augenblicklich verstummte das Heulen der Wölfe und selbst die Schreie des Käuzchens verebbten. Einzig und allein ihre liebliche, glasklare Stimme hallte, wie der Gesang einer Sirene durch die nun ansonsten totenstille Nacht.

„Jupiter”, flüsterte er leise vor sich hin, „sag mir, dass ich träume. Das hier kann nur ein Traum sein!” Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Im Grunde genommen wusste er gar nichts mehr. Zunächst beobachtete er sie nur weiterhin fasziniert aus seinem Versteck heraus. Dann aber bewegte er sich so leise, wie es ihm nur irgend möglich war auf sie zu. Es geschah vollkommen unbewusst, fast so als steuerte ihn eine unsichtbare Macht. Erst als er direkt hinter ihr stand, realisierte er, was er getan hatte. Doch zurück konnte er nicht. Nicht jetzt, wo er ihr schon so nah war. Instinktiv streckte er seine Hand nach ihr aus, zog sie aber sofort zurück, als er merkte, was er im Begriff war zu tun. Er wusste, dass er gerade dabei war, die größte Dummheit seines Lebens zu begehen, aber, wie, bei allen Göttern, hätte er es verhindern können, wenn sein Verstand sich bereits bei ihrem ersten Anblick verabschiedet hatte. Er sah seine Hand, die nun zaghaft eine lange Strähne ihres Haares berührte und fluchte im Stillen. Verdammt! Es fühlte sich genauso seidig an, wie es aussah. Er wollte sein Gesicht in dieser Fülle vergraben, doch irgendetwas hielt ihn zurück, obwohl sie von all dem nichts zu bemerken schien. Noch einmal zögerte er kurz, dann aber, durch ihre scheinbare Ahnungslosigkeit angespornt, streifte er mit seinen Fingern ihren Arm und legte vorsichtig seine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte leicht zusammen, während er den Druck behutsam verstärkte und sie allmählich zu sich herumdrehte.

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