2. Blick ins Buch

Auszug aus Kapitel 8

Die heiße Dusche half wirklich. Nicht nur ihrem Körper, der sich wie ein Eisblock angefühlt hatte, sondern auch gegen ihre Übelkeit. Vielleicht lag es nur daran, dass sie sich ein wenig beruhigte, während das heiße Wasser an ihr herabrann. Auf jeden Fall fühlte sie sich danach um einiges besser. Gwen wickelte sich in ein Badetuch und lief zurück in die Kammer. Gerade als sie sich dazu durchrang, sich doch noch ein wenig unten zu Larna und Megan zu gesellen, fiel ihr auf, dass ihre Sachen ja noch immer triefend nass waren. Und da sie wieder nicht zum Einkaufen gekommen war …
Triefend nass! Wenn ihre Kleidung triefte, dann mit Sicherheit auch ihre Tasche!
Ohne lange zu überlegen, griff sie danach.
Aye! Auch sie war vollkommen durchnässt. Verdammt! Die Bücher des Professors und die Aufsätze befanden sich darin. Das hatte ihr gerade noch gefehlt!

Als sie die Tasche daraufhin mit zittrigen Fingern öffnete und deren Inhalt auf das Bett schüttete, hielt sie erst einmal unbewusst die Luft an. Doch wider Erwarten war es nicht ganz so schlimm, wie sie es befürchtet hatte. Einige der Arbeiten waren zwar feucht, aber immer noch gut lesbar. Auch die Bücher hatten nur an ihrem Einband ein wenig Wasser abbekommen. Wenn sie ihre Kleidung auf die Heizung und all die Unterlagen darunter legen würde, dann würden sie mit Sicherheit morgen fast wie neu aussehen. Gwen atmete erleichtert aus, während sie ihren Gedanken in die Tat umsetze. Allerdings schoss ihr dabei ein weiterer durch den Kopf.
Die Sackpfeife! Was, wenn die Kiste genauso wenig wasserdicht war wie ihre Tasche. Die 500 Jahre in der Höhle hatten ihr zwar nicht sehr viel ausgemacht, aber was, wenn sie ebenfalls feucht wurde, oder schlimmer, vollkommen durchnässt war?
Gwen starrte auf die Kiste.
Konnte und durfte sie sie einfach öffnen, um nach dem Rechten zu sehen? Dumme Kuh!, schalt sie sich selbst. Hatte Adams nicht gesagt, dass er ihr vertraute? Wieso dann nicht? Sie trug die Verantwortung für das Artefakt, also musste sie auch entscheiden, was momentan richtig war. Dementsprechend …

Gwen kniete sich vor die Kiste und öffnete den Deckel. Das Tuch, in das der Professor die Sackpfeife eingewickelt hatte, schien trocken zu sein, dennoch konnte sich dessen ungeachtet Wasser im unteren Bereich der Kiste gesammelt haben. Gwen umfasste mit beiden Händen vorsichtig das Tuch samt Sackpfeife und hob sie an. Der quäkende Ton der Bordunpfeife erklang.
Anscheinend hatte sich etwas Luft im Sack befunden, die sie beim Zupacken unwillkürlich herausgepresst hatte. Erstaunlich, dass man dem alten Instrument noch immer Töne entlocken konnte, obwohl es bisher nicht restauriert worden war.
Gwen stand auf, doch gerade als sie sich dem Bett zudrehen wollte, um die Sackpfeife dort abzulegen, hörte sie eine tiefe männliche Stimme, mit bedrohlichem Unterton, erst knurren und dann sagen:
»Wo ist der Hundsfott, der Euch bedrängt, Mylady? Ich werde diesen Kerl in Stücke reißen!« Gwen ließ vor Schreck die Sackpfeife fallen und drehte sich dabei panisch um. Durch die schnelle Bewegung drohte das Handtuch von ihrem Körper zu rutschen, sodass sie instinktiv mit beiden Händen danach griff und es mit verschränkten Armen vor ihrer Brust zusammenpresste. Doch noch in der Bewegung erstarrte sie plötzlich zur Salzsäule. Mitten im Raum stand ein Mann. Ein sehr großer Mann. Sein rabenschwarzes, schulterlanges Haar, in das von den Schläfen hinunter zwei dünne Zöpfe geflochten waren, war verfilzt, genauso wie sein schrecklicher Bart, der vermutlich noch niemals gestutzt worden war. Sein zu einem Kilt gebundenes Plaid hatte mit Sicherheit schon wesentlich bessere Zeiten gesehen und war gleichermaßen verdreckt wie das Hemd, das er darunter trug.
Durch all den Dreck, der an ihm klebte, konnte sie auch beim besten Willen nicht einschätzen, wie alt er war, höchstwahrscheinlich aber nicht viel älter als sie selbst. Wieso machte sie sich Gedanken darüber, wie alt er war? Selbst als Greis hätte er ihr noch Angst eingejagt.
Das lag allerdings nicht nur daran, dass er einfach ungeheuer groß war, sondern ebenfalls sehr muskulös, was ihn noch bedrohlicher wirken ließ. Allein das alles hätte vermutlich schon ausgereicht, um sie zu Tode zu ängstigen, doch zu allem Überfluss hielt er auch noch einen Sgiann Dubh in seiner Hand, dessen Spitze genau auf sie gerichtet war. Dabei sah er sie aus saphirblauen Augen grimmig an. Wie ein wildes Tier, das nur darauf lauerte, sich auf seine Beute zu stürzen.

Gwen war zu nichts anderem mehr fähig, als ihn einfach nur bewegungslos anzustarren. Draußen tobte weiterhin das Gewitter, sodass der prasselnde Regen und das Donnergrollen die gesamte Situation noch bizarrer erscheinen ließen als ohnehin schon.
Verdammt, wie war er in ihr Zimmer gekommen, ohne dass sie etwas davon gemerkt hatte? Wenn Megan und Larna auf diese Weise ihren Spaß mit ihr treiben wollten, dann hatten die beiden den Bogen gewaltig überspannt. Nicht nur, dass sie einen wildfremden Kerl in ihr Zimmer gelassen hatten, nein, es war auch noch einer, der aussah, als hätte er die letzten Jahre seines Lebens als Landstreicher auf der Straße verbracht. Wie viel Geld hatten die beiden wohl locker machen müssen, um ihn dazu zu bringen, in ihr Zimmer zu gehen und …

Der Fremde fixierte sie nun aus zusammengekniffenen Augen und fletschte dabei seine Zähne.
Wenn er angeheuert worden war, dann hatten die beiden einen wirklich guten Schauspieler erwischt. Es sei denn, …. Er meinte, das, was er sagte und tat, vollkommen ernst. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Aye! Das hier war keine Scharade! Aber was war es dann?

Gwen versuchte, sich ein wenig zu beruhigen, was ihr allerdings nur leidlich gelang, denn die Präsenz des Fremden in der kleinen Kammer war einfach überwältigend. Seine Augen funkelten wie dunkle Saphire und passten irgendwie nicht zu dem Gesamtbild, das er bot. Ihrer Angst zum Trotz ertappte sie sich dabei, sich vorzustellen, wie er wohl aussah, wenn all der Dreck, der ihn umgab, plötzlich verschwinden würde.
Verschwinden! Das war eindeutig das richtige Stichwort. Er hatte nichts in ihrem Zimmer zu suchen! Auch wenn er bewaffnet war oder genau deshalb!

Während sie ihn anstarrte, änderte sich etwas in seinem Blick und an seiner Haltung. Er schien nicht mehr so aggressiv, sondern eher erstaunt. Allerdings konnte der Eindruck auch täuschen. Gwen nahm all ihren Mut zusammen und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, dann sah sie ihm in die Augen.
»Wer sind sie und was wollen Sie von mir?« Der Fremde starrte sie zuerst ungläubig an, dann allerdings so, als … Ja wie? Es schien ihr, als würde er etwas in ihr sehen, was er nicht erwartet hatte. Aber das konnte nicht sein, zumal weder sie ihm, noch er ihr jemals zuvor begegnet, geschweige denn aufgefallen war.
»Ihr ruft mich und wisst nicht, wer ich bin?« Gwen sah ihn irritiert an.
»Wie? Ich rufe Sie? Ich wüsste nicht, dass ich …«
»Wenn Ihr nicht gerufen hättet, wäre ich nicht hier!«, unterbrach er sie rüde, während sein Blick bei seinen Worten von ihr über die Umgebung und dann wieder zurück wanderte. »Wo ist hier eigentlich? Ist dies ein Etablissement mit zweifelhaftem Ruf? Und Ihr eine dieser …?« Seine Worte trafen sie wie ein Faustschlag, was allerdings zur Folge hatte, dass ihre Angst einer unermesslichen Wut wich, die sie all ihre Vorsicht vergessen ließ und ihr somit half, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen.
»Ich warne Sie! Wagen Sie ja nicht, es auszusprechen!«, zischte sie ihn an. »Sie platzen hier in mein Zimmer, bedrohen mich mit ihrem Messer und zu allem Überfluss beleidigen Sie mich jetzt auch noch! Das ist ja wohl das Letzte! Verschwinden Sie!«
Noch ehe sie die Worte vollends ausgesprochen hatte, geschah etwas Merkwürdiges. Der Fremde sah sie zuerst enttäuscht an und löste sich dann vor ihren Augen in Luft auf. Gwen starrte auf die nun leere Stelle direkt vor ihrem Bett.

War sie langsam dabei durchzudrehen? Oder nur so übermüdet, dass sie schon Dinge sah, die gar nicht sein konnten? Verflucht! So etwas konnte man sich doch nicht einbilden! Ein halbwilder Irrer, der sie mit einem Dolch bedrohte, war mit Sicherheit nichts, was sie sich erträumt hätte. Wieso sollte er dann ein bloßes Hirngespinst gewesen sein? Doch wenn er es nicht war, wo war er hin? Ein Kerl wie ein Baum konnte sich ja wohl kaum einfach so in Luft auflösen? Oder etwa doch?

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