2. Blick ins Buch

Auszug aus Kapitel 9

Die mitternächtliche Stunde rückte immer näher und langsam wurde es ein wenig ruhiger, denn jeder begann sich zu fragen, wer denn diesmal für den Brauch des ersten Gastes ausgewählt worden war. Vermutlich ein stattlicher, dunkelhaariger Mann, denn diese brachten besonders viel Glück. Als dann die Kirchenglocken die Geburt des neuen Jahres verkündeten, war es im ganzen Raum so still, dass man eine Feder hätte fallen hören können. Alle Anwesenden, Isabelle eingenommen, starrten wie gebannt auf die Tür. Pünktlich beim letzten Glockenschlag öffnete sich diese dann auch und Ian MacNab, ein breitschultriger, dunkelhaariger Stallbursche trat, dicht gefolgt von einer alten Frau, die Isabelle nicht kannte, ein. Die beiden kamen schnurstracks auf sie zu und blieben unmittelbar vor ihr stehen. Das kommende Jahr würde somit hervorragend werden, schoss es ihr durch ihren vom Wein ein wenig umnebelten Kopf, wenn gleich zwei Gäste zu so früher Stunde eintrafen. Sie konnten es auf jeden Fall alle gut gebrauchen. Ian überreichte ihr nun, wie es der Tradition entsprach, ein Stück Brot, Salz und eine Flasche Whisky, die Isabelle dankend entgegennahm. Dann folgte die Alte. Die Alte musterte sie aus ihrem von Falten zerfurchtem Gesicht mit einem Blick, der Isabelle bis ins Mark traf und der ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte.
»Kind, ich bin sehr weit gereist, um dich zu sehen.« Isabelle sah die Alte fragend an.
»Wer seid Ihr?«
»Man nennt mich die alte Noirin.«
»Setzt Euch, ich heiße Euch gerne in unserem Heim willkommen.«
»Die Zeit habe ich leider nicht. Ich habe auch kein Geschenk, das man in die Hand nehmen könnte, sondern …« Die Alte griff nach Isabelles Hand und drehte sie so, dass ihre offene Handfläche nach oben zeigte, dann starrte sie darauf.
»Mein Geschenk ist etwas, was Euch in Zukunft sehr nützlich werden kann.«
»Gute Frau, Ihr sprecht in Rätseln.«
»Nein, mein Kind, das Rätsel folgt erst noch. Isabelle Ferguson, Tochter von Mhairi und dem roten Brian, ich habe eine Botschaft für Euch.« Isabelles Nackenhaare stellten sich auf. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, während sie nun die Alte ungläubig anstarrte. Noirin jagte ihr Angst ein und das lag nicht am Aussehen der Alten.
»Dein Leben, mein Kind«, begann Noirin leise, »wird nicht in den geordneten Bahnen weiter verlaufen, in denen es begonnen hat. Viel Leid wird über Dich und die Deinen kommen. Sehr viel Leid! Aber aus dem Leid wird etwas erwachsen, das immerwährenden Bestand hat. Nutze die Gunst der Stunde und du wirst den Sieg davontragen. Sei weise und nimm dein Schicksal in deine eigene Hand, denn nur dann …«

»Was ist hier los?«, die Stimme ihres Vaters donnerte durch den Raum, wie eine Urgewalt und unterbrach damit Noirin. »Hatte ich nicht jedwede Festlichkeit verboten?«
Alle im Raum zuckten vor Schreck zusammen und starrten auf die Türöffnung, in der Brian Ferguson sich zu seiner vollen Größe aufgebaut hatte und sie dabei ansah wie der Rachegott höchstpersönlich. Auch Isabelles Blick war direkt zu ihrem Vater gewandert. Die Stille, die nun eingekehrt war, hatte nichts mehr mit der fröhlichen Erwartung zu tun, die noch vor wenigen Augenblicken geherrscht hatte, sondern sie war bedrohlich und angsteinflößend, wie die bekanntlich Stille vor einem drohenden Unheil.
Dieses Unheil betrat jetzt in Gestalt ihres Vaters den Raum. Isabelle, war eine der ersten, die aus ihrer Erstarrung erwachte. Es war unhöflich von ihrem Vater gewesen, Noirin einfach so zu unterbrechen. Doch als sie sich bei ihr für das rüde Eintreten ihres Vaters entschuldigen wollte, war diese verschwunden. Sie hatte noch nicht einmal gemerkt, dass Noirin ihre Hand losgelassen hatte und einfach gegangen war, denn wie bei jedem anderen auch, war ihr Vater dermaßen in den Mittelpunkt ihrer Wahrnehmung gerückt, dass alles andere unwichtig geworden war.
»Wer hat es gewagt, sich meinem Willen zu widersetzen? Zeigt mir den Hundsfott! In einem Haus der Trauer wird nicht gefeiert. War mein Befehl nicht deutlich genug?« Einige der Anwesenden sahen betreten zu Boden, während andere erschrocken ihre Köpfe einzogen. »Was ist? Hat es euch die Sprache verschlagen?« Isabelle betrachtete zuerst schweigend die Bediensteten, dann schließlich ihren Vater. Sie konnte nicht zulassen, dass all die armen Menschen hier seinen Zorn zu spüren bekamen. Einen Zorn, der ganz alleine ihr galt. Das hatte sie nicht gewollt. Es half auch nichts, wenn sie sich weiterhin in der Menge verkroch, denn eines stand fest: Solange ihr Vater keinen Schuldigen gefunden hatte, würde er auch keine Ruhe geben. Und ihre Mutter war nicht mehr da, um ihn zu besänftigen. Dementsprechend gab es nur eine Sache, die sie jetzt tun konnte.

Isabelle atmete mehrmals kräftig ein und aus, straffte ihren Rücken, hob ihren Kopf und trat dann, mit einem Mut, den sie sich selbst niemals zugetraut hätte, aus der Menge heraus.
»Vater, das war ich! Ich dachte, die Bediensteten …«, weiter kam sie nicht. Ihr Vater stürmte auf sie zu, packte sie grob am Handgelenk und unterbrach sie schreiend:
»Du! Wie kannst du es wagen ….«, Isabelle sah ihren Vater in Erwartung einer tüchtigen Tracht Prügel ängstlich an. Doch anstatt ihr eine Ohrfeige zu versetzen, hielt dieser plötzlich inne. Sie spürte, wie er sie mit einem Mal verwirrt musterte. Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht bis zu ihren Fußspitzen und wieder zurück.
»Mhairi?«, flüsterte er ihr daraufhin verwirrt zu.
»Nein, Vater, ich bin es, Isabelle.« Ihr Vater sah ihr ungläubig in die Augen, so als könne er dort eine Antwort auf seine Frage finden.
»Isabelle?«, brachte er schließlich tonlos hervor.
»Aye!« Noch immer starrte er sie an. Eine Weile geschah nichts. Dann aber änderte sich etwas in seinem Blick, was Isabelle nicht zuordnen konnte.
»Du bist nicht Isabelle. Meine Isabelle ist noch ein Kind. Du aber bist eine Frau. Nicht eine Frau, sondern meine Frau. Gott hat ein Wunder bewirkt. Mhairi ist von den Toten zurückgekehrt«, flüsterte er tonlos.
»Vater, nein, ich bin nicht Mutter. Ich bin Isabelle, deine Tochter.« Ihr Vater musterte sie erneut. Diesmal allerdings nicht abschätzend, sondern … Ja wie eigentlich? War das Begehren, was dort aufflackerte. Aber nein, sie hatte ja keine Ahnung, wie Begehren aussah. Es musste etwas anderes sein. Und sie ahnte bereits, was es war. Das, was sich in seinen Augen widerspiegelte, konnte man nur mit Wahnsinn bezeichnen. Ihr Vater hatte den Verstand verloren.

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